Münchhausen

Es begann mit einer Lüge: Kosovo-/Jugoslawienkrieg 1999

von Clemens Ronnefeldt

Vor 15 Jahren, am 24. März 1999, hielt der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die nachfolgende TV-Ansprache: „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern. Der jugoslawische Präsident Milosevic führt dort einen erbarmungslosen Krieg. Die jugoslawischen Sicherheitskräfte haben ihren Terror gegen die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo allen Warnungen zum Trotz verschärft. Die internationale Staatengemeinschaft kann der dadurch verursachten menschlichen Tragödie in diesem Teil Europas nicht tatenlos zusehen. Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen (...)“ 

Noch einen Tag zuvor, am 23. März, wird vermutlich auch Bundeskanzler Gerhard Schröder den Lagebericht von 15.00 Uhr der Nachrichtenoffiziere des Bundesverteidigungsministeriums zur Kenntnis genommen haben, in dem u.a. zu lesen war: ‚Das Anlaufen einer koordinierten Großoffensive der serbisch-jugoslawischen Kräfte gegen die UCK im Kosovo kann bislang nicht bestätigt werden.‘

Die Kosovo-/Jugoslawien-Bombardierungen sind vor dem Hintergrund der Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina von 1991 bis 1995 zu sehen, denen allein in Bosnien-Herzegowina mehr als 100.000 Menschen zum Opfer fielen – und die zur Aufnahme von mehr als 350.000 Flüchtlingen in Deutschland führten.

Im Kosovo wurden gewaltfreie Basisinitiativen viele Jahre nicht unterstützt. Ibrahim Rugova, 1992 und 1998 zum Präsidenten im Kosovo gewählt und Verfechter einer gewaltfreien Politik, fand im Ausland mit seinem Ansatz nur wenig Beachtung.

Der Kosovo-/Jugoslawienkrieg wurde mit der Begründung geführt, einen Völkermord zu verhindern, bei dem überwiegend die serbische Seite als Täter und die albanische Bevölkerung als Opfer in fast allen Leitmedien dargestellt wurden. Der WDR-Film „Es begann mit einer Lüge“ von Jo Angerer, und Mathias Werth zeigte, dass die deutsche Öffentlichkeit massiv belogen wurde, um die dritte Bombardierung Belgrads in einem Jahrhundert zu rechtfertigen. Ein sogenannter Hufeisenplan existierte nicht, sondern war zu Propagandazwecken erfunden worden, das behauptete Massaker im Stadion von Pristina hatte nicht stattgefunden.

Bei den Verhandlungen in Rambouillet wenige Wochen vor den NATO-Bombardierungen ab März 1999 legten die Nato-VertreterInnen die Latte für die serbische Seite so hoch, dass kein Serbe mit Schulbildung diesen Vertrag hätte unterzeichnen können, wie Rudolf Augstein schrieb. Nato-Truppen sollten im gesamten verbliebenen serbischen Teil Jugoslawiens stationiert, Änderungen an Brücken, Straßen und anderer serbischer Infrastruktur zugelassen, den NATO-Soldaten Straffreiheit bei kriminellen Akten im Rahmen der anvisierten Besatzung zugestanden werden.

Die Lunte, mit welcher der Krieg gezündet wurde, war das so genannte Massaker von Racak am 15.1.1999 mit 45 Toten. Wie die Opfer zu Tode gekommen sind und wer die Verantwortung dafür trägt, ist bis heute nicht restlos aufgeklärt.

Die grundlegend falsche Annahme: Entweder Völkermord oder Krieg
Bei den Grünen gab es in einem wichtigen Punkt ein intellektuelles Defizit: Sie sahen nur zwei Möglichkeiten: Entweder ethnische Säuberungen oder Bombardements. Insbesondere Joschka Fischer trieb mit der ‚Nie wieder Krieg‘ und ‚Nie wieder Auschwitz‘-Parole seine Partei wie auch die Gemütslage weiter Bevölkerungskreise in eine so den Realitäten nicht entsprechende Sackgasse – mit großer Wahrscheinlichkeit wider besseren Wissens.

Zur Einhaltung des Holbrooke-Milosevic-Abkommens
Dieter S. Lutz zitierte in einem Brief an Erhard Eppler auch Heinz Loquai, der für die OSZE im Kosovo gewesen war: „Die sichtbare internationale Präsenz an Brennpunkten des Geschehens trug zur Entspannung der Lage bei, ließ die Flüchtlinge wieder in ihre Dörfer zurückkehren. Mitte November wurden nur noch wenige hundert in einem Lager künstlich zurückgehalten, um den Medien ein solches Camp vorführen zu können. Doch es gab ein Problem, auf das anscheinend niemand vorbereitet war. Die UCK, die sich an die Vereinbarungen nicht gebunden fühlte, rückte dort ein, wo die Jugoslawen abgerückt waren. Von jugoslawischer Seite wurde wiederholt erklärt, wenn die UCK weiterhin das geräumte Gebiet besetze, werde das zu Reaktionen führen.“ (in: Die Woche, 2.7.99).

Brigadegeneral Heinz Loquai fasste seine Analyse in der NDR-4-Sendung „Streitkräfte und Strategien“ am 22.5.99 folgendermaßen zusammen: Vertreibungen und Flüchtlingsströme setzten ein, nachdem die internationalen Organisationen das Kosovo verlassen und die Angriffe begonnen hatten. D.h. der Krieg verhinderte die Katastrophe nicht, sondern machte sie in dem bekannten Ausmaß erst möglich. (...) Der Frieden wurde u.a. verspielt,
- weil die meisten NATO-Staaten einseitig Partei gegen die Serben und für die Kosovo-Albaner nahmen. Hierdurch stärkte und ermunterte man die UCK, und man förderte selbst bei gemäßigten Serben den Eindruck, dass die NATO ohnehin die Sache der Albaner betreibe;
– weil die Europäer den USA zu gefügig waren und den aufgebauten Zeitdruck hinnahmen, ohne sich der allmählichen Militarisierung der Politik zu widersetzen;
– weil die NATO glaubte, durch ihre Luftangriffe Milosevic innerhalb kurzer Zeit zum Nachgeben zu zwingen und die Durchhaltefähigkeit eines diktatorischen Regimes unterschätzte;
– weil die politische und militärische Führung der NATO außer acht gelassen hatte, dass der Einsatz allein von modernen Kampfflugzeugen gegen bewegliche, aus guter Deckung operierende Bodenziele risikoreich, aufwendig und von sehr begrenzter Wirkung ist.

Die Parlamentarische Versammlung der NATO, ein unabhängiges Gremium, das als Bindeglied zwischen dem Bündnis und den Parlamenten fungiert, hat im Dezember 2000 einen Generalbericht über die Folgen des Kosovo-Konfliktes und seine Auswirkungen auf Konfliktprävention und Krisenmanagement verabschiedet. Darin heißt es:

„So nutzte die UCK das Holbrooke-Milosevic-Abkommen als Atempause, um ihre Kräfte nach den Rückschlägen des Sommers zu verstärken und neu zu gruppieren. Die serbischen Repressionen ließen unter dem Einfluss der KVM in der Zeit von Oktober bis Dezember 1998 nach. Dagegen fehlte es an effektiven Strategien zur Eindämmung der UCK, die weiterhin in den USA und Westeuropa, – insbesondere Deutschland und der Schweiz - Spenden sammeln, Rekruten werben und Waffen über die albanische Grenze schmuggeln konnte. So nahmen die Angriffe der UCK auf serbische Sicherheitskräfte und Zivilisten ab Dezember 1998 stark zu. Der Konflikt eskalierte neuerlich, um eine humanitäre Krise zu erzeugen, welche die NATO zur Intervention bewegen würde.“

Die wichtigsten Gründe für den Kosovo/-Jugoslawienkrieg in Kurzform
Nach allen bisher genannten Quellen haben andere als die von NATO-Seite genannten Gründe den Ausschlag für die Bombardierungen gegeben. Zu diesen dürften mit unterschiedlichem Gewicht stichwortartig folgende gehören, wobei meist in Klammern jeweils VertreterInnen dieser Argumente stehen:

1. Testlauf der neuen NATO-Doktrin zum 50. Jahrestag 1999: Erster Militäreinsatz ohne UN-Mandat.

2. Durchsetzung des weltweiten Führungsanspruches der NATO unter US-Führung bei gleichzeitiger Ausschaltung von OSZE und UNO.

3. Konkurrenz zwischen USA und Europa, Dollar und Euro; Desintegration Europas durch die USA bei gleichzeitiger Erschwerung bzw. Verhinderung der Zusammenarbeit Berlin-Moskau. (J. Rose)

4. Sicherung der Existenzberechtigung der NATO und Auslastung der Rüstungskapazitäten.

5. Testfall für Krieg der US-Luftwaffe bei scharfer Konkurrenz um Haushaltsmittel zwischen Luftwaffe, Heer und Marine. (P. Lock)

6. Verhinderung neuer Flüchtlinge und deren Kosten in Westeuropa. (G. Schröder)

7. Möglicher Präzedenzfall für künftige Konflikte im Kaukasus. (Prof. A. Pradetto)

8. Disziplinierung des Fremdkörpers Serbien als letztes mit Russland und China verbundenes Land in Europa, das sich der Globalisierung widersetzt hat. (Prof. J. Galtung)

9. Nach Irak-Bombardierung 1998 durch Unterstützung der albanischen Muslime neue Pluspunkte in der (ölreichen) arabischen Welt (W. Wimmer).

Im Zusammenhang der Krim-Krise beurteilte Altbundeskanzler Gerhard Schröder den Angriff von 1999 als Verstoß gegen das Völkerrecht: Da haben wir unsere Flugzeuge (...) nach Serbien geschickt und die haben zusammen mit der Nato einen souveränen Staat gebombt - ohne dass es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte. (F.A.Z., 10.3.14)

Sein Vorgänger, Altbundeskanzler Helmut Schmidt hielt bereits 1999 die deutsche Kriegsbeteiligung für nicht zu rechtfertigen: Gegängelt von den USA haben wir das internationale Recht und die Charta der Vereinten Nationen missachtet. (FR, 3./4.4.99)

Der Artikel wurde gegenüber seiner Web-Version erheblich gekürzt. Die vollständige Fassung einschließlich der Belege für die Aussagen findet sich bei: http://www.aixpaix.de/muenchhausen/kosovo.html

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Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.